Auszug aus Kapitel „Data hat Angst“

Am nächsten Mittag sahen sich die Mädchen die Aufzeichnung vom Vortag an und diskutierten darüber. Sie waren sich einig, dass ein Roboter unmöglich Angst haben kann. Höchstens eine Verwirrung in den Schaltkreisen oder einen Defekt im Programm.

»Obwohl«, schränkte Iris dennoch ein, »Data ist wie lebendig. Ob Muskeln oder Motoren, ob Nerven oder Leitungen, ist doch nicht so wichtig. Und sein Elektronengehirn ist besser als das jedes Menschen.«

»Was aber nichts mit Gefühlen zu tun hat. Die gehören zum Körper, nicht zum Geist.«

»So einfach kann man das bestimmt nicht trennen«, widersprach Iris.

»Eigentlich Mist, dass man so was nicht weiß, nur all den Schulkram.« Dann gestand sie: »Vorgestern weckte mich ein Albtraum. Deswegen habe ich überlegt, was Angst ist, und ob Kuschel sie haben kann. Weiter hätte mich das nicht beschäftigt, doch abends meinte ich, eine Stimme zu hören, die „bewusst sein“ sagte. Gestern erschien – vielleicht von einem Virus – ein komischer Satz über Sein und Denken auf dem Bildschirm. Dann das mit Data. Irgendwie passt das alles zusammen und kann eigentlich kein Zufall sein. Es ist unheimlich.«

»Klingt tatsächlich ziemlich schräg«, bestätigte die Jüngere. »Aber was Angst ist, könnten wir ja im Lexikon nachlesen.«

»Kannst du dir sparen. Weißt du hinterher noch weniger.«

»Dann hilft vielleicht ein Buch von Mama«, meinte Elena, denn ihre Mutter interessierte sich für Biologie und Psychologie.

Also die Treppen hoch zum Absturzregal. Das stand, obschon ein Hängeregal, auf dem Boden im Dachgeschoss. Es war vor Wochen mitsamt zu vielen Büchern, zu schwachen Wandhaken und riesigem Gepolter dem Gesetz der Schwerkraft gefolgt. Vaters Versprechen, es zu richten, unterlag dagegen dem Gesetz der Trägheit. Doch die Schwestern fanden es bequem und lustig, auf dem Boden zu sitzen, um die provisorisch wieder eingeräumten Bücher zu durchforschen.

»Ha, sag‘ ich doch!« Iris hatte ein Buch über Leben gefunden und las daraus zufrieden vor: »Es gibt keine scharfe Grenze zwischen Lebendigem und Unbelebtem. Man kennt Systeme, die nur einige Merkmale des Lebens aufweisen, z.B. Makromoleküle mit der Fähigkeit zur Selbstvermehrung.«

Elena erkannte den unausgesprochenen Bezug auf den Androiden und wandte ein: »Mit der Selbstvermehrung dürfte es aber bei Data Probleme geben«. Sie sahen sich an, jede dachte sich ihren Teil, beide kicherten. »Nur Lebewesen können sich fortpflanzen.«

»Wobei es schon komisch klingt, wenn man sagt, Tiere oder Menschen pflanzen sich fort«, fiel Iris auf. »Aber wenn ein Roboter wieder Roboter baut, ist das eigentlich nichts anderes.« Dann las sie weiter vor: »Das Leben ist an Eiweiße, Nukleinsäuren, Kohlehydrate und Fette gebunden.«

»Also ist Data aus dem Rennen«, stellte Elena fest.

Doch Iris‘ Dickkopf wollte sich nicht überzeugen lassen: »Pah, bloß weil unsere Chemie so funktioniert, heißt das noch lange nicht, dass es einzig und allein so geht. Da wir alle von einer Urzelle abstammen, wird natürlich nach deren Rezept gekocht. Das schließt jedoch nicht aus, dass auch andere Suppen gelingen könnten.« Sie schob das Buch verärgert von sich.

Elena nahm es, las erst still, um den Anschluss zu finden, dann laut: »Ein lebendes System ist in ständiger Veränderung. Diese äußern sich insbesondere als Stoff- und Energiewechsel.«

»Data braucht auch Energie und zieht sich schon mal einen Silikonmix als Schmiermittel rein«, verteidigte Iris ihren Serienhelden.

Die Jüngere las unbeirrt weiter: »Die Frage, ob sich Leben völlig mit physikalischen und chemischen Gesetzen erklären lässt, wird von der modernen Naturwissenschaft bejaht. Die Vitalisten sehen dagegen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Leben und unbelebter Materie. Sie gehen von einer übernatürlichen Lebenskraft aus, die den Lebewesen innewohnt.«

»Siehst du: Die Wissenschaft erklärt Leben mit physikalischen und chemischen Gesetzen. Data kann man sowieso nicht anders erklären! Wo, bitte schön, ist der Unterschied?«

»Der kleine Unterschied …«, das Kichern machte sich selbstständig, »ist vielleicht der, dass es diese übernatürliche Lebenskraft gibt.«

»Reliquatsch!«

»Aber man kann doch nicht alles und jedes mit Physik und Chemie erklären. Die Wand hier ist auch Physik und die Gardine Chemie. Doch die leben bestimmt nicht!«

»So simpel geht’s ja auch nicht. Es war ja von Systemen mit Veränderung und Energieverbrauch die Rede.«

»Dann, weise Schwester, lebt also auch ein Auto?«

»Das hat doch kein Gehirn, wie Data.«

»Aber elektronische Steuerungen. Und es geht um Gefühle. Die kommen nicht aus dem Gehirn, schon gar nicht aus einem künstlichen.«