Verstand und Vernunft

Aristoteles war ein Schüler Platons. Doch wie Schüler manchmal so sind, widersprach er seinem Lehrer heftig: Er ging nicht – wie Platon – davon aus, dass die Fähigkeit zur Erkenntnis von der Seele aus einer übernatürlichen Welt mitgebracht wird; als das, was wir Vernunft nennen, gleichsam die Einsicht durch ein geistiges Auge.  

Vielmehr entwickelte Aristoteles die Methode, die von den Einzelnen Dingen in der Natur auf das Ganze schließt. Diese Erkenntnisse gewinnen wir durch Verstand, also dem Verständnis durch beobachten, ordnen und logisch schließen.

Nach Platon kennt die Seele zum Beispiel die ideale Kugel: wunderschön gleichmäßig rund. Sehen wir die Dinge in der Natur an, wie einen Apfel, dann vergleichen wir den mit der idealen Kugel. Wir stellen fest, dass er zwar kugelig aber doch verformt ist. Nichts in der Natur ist eine perfekte Kugel, auch kein Wassertropfen, keine Nuss und kein Kieselstein. Somit sagt uns zwar die Seele, dass diese Dinge kugelig sind, aber unvollkommen. Natur ist nur Murks.

Aristoteles sieht sich Äpfel und Nüsse und Wassertropfen an und stellt fest, dass sie z.B. unterschiedlich hart sind und verschieden schmecken. All das, was man so feststellen kann, sind Eigenschaften der Dinge. In diesem Sinne hat jedes natürliche Wesen seine Eigenart. Unsere drei sehr verschiedenen Beispieldinge besitzen jedoch eine gemeinsame Eigenschaft: Sie sind kugelig und nicht eckig und auch nicht eiförmig.

Jedes ist zwar etwas anders kugelartig, doch wir können in Gedanken die Unterschiede ausgleichen. Tun wir das, so denken wir abstrakt: Wir trennen die allgemeine Form von den einzelnen realen Dingen. Wir idealisieren; nicht als Erinnerung an eine Welt der Ideen sondern als eigene Leistung des Verstandes: Der Mensch erkennt Prinzipien, erdenkt die vollkommene Kugel und kann sie sogar – viel gleichmäßiger als in der Natur – künstlich herstellen.

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Auszug aus dem Kapitel „Alberto“:

»Ich dachte, Thomas sei ein wichtiger Kirchenmann gewesen. Und der lästerte Gott?«

»Es ging um die Philosophie des Aristoteles. Die durfte damals nicht gelehrt werden, nur die des Platon.«

»Dann war es doch eher eine Platon-Lästerung. Merkwürdig, dass die beiden alten Griechen noch anderthalb Jahrtausende nach ihrem Tod stritten.«

»Sie tun es bis heute. Denn sie errichteten die zwei gegensätzlichen Eckpfeiler der Weltsicht. Der aus dem Athener Hochadel stammende Platon schuf die himmlisch schwebende Säule der Erleuchtung durch übernatürliche Vernunft. Diese wurde bestens gepflegt. Seine Akademie bestand 914 Jahre lang.«

»Da kann Ureda nicht mithalten!«

»Die andere Säule ist die erdverbundene der Erkenntnis durch Erfahrung und Verstand. Diese errichtete der in Athen nur geduldeten Ausländer Aristoteles. Bald stürzte man sie. Denn seine Schule, das Lyceum, wurde einige Jahrzehnte nach seinem Tod geschlossen.

Die Schriften des Aristoteles gingen verloren. In den Erinnerungen machte man aus ihm eine Art Hexenmeister. Ebenso erging es Albertus Magnus. Mit ihm und Thomas müssen wir uns noch intensiv beschäftigen, denn sie sind eine Doppelperle der aristotelischen Seelenkette – ganz so wie ihr.«

»Wie bitte?«

»Ich kann es noch nicht erklären, darf es nicht verraten!«

»Willst du uns veralbern?«

»Nein, euch vorbereiten.«

»Worauf?«

»Darauf, Antwort zu sein.«