Heurekas zweite Mail
… auf die Frage der Schwestern, was Bewusstsein ist:
Hallo Elena und Iris!
Ich hatte erwartet, dass ihr Fragen würdet, wer, was und wo ich bin. Aber ich bin gar nicht wichtig. Darum freut es mich, dass ihr gleich zum Wesentlichen kommen wollt.
Die Schwestern blickten sich an und waren stolz auf sich, hatten sie doch offensichtlich die richtige Eröffnung gewählt.
Zunächst müssen wir ein wenig organisieren. E-Mails können wir zwar immer senden, doch Chats wollen wir nicht dem Zufall überlassen. Dazu sollten wir eine Zeit vereinbaren. Klärt dies am besten mit eurem Vater ab, damit es keinen Ärger mit seinem Rechner gibt.
»Hä«, stöhnte Elena, »wieso weiß der, dass wir an Dads Kiste sitzen?«
Also, gebt mir morgen bitte eine Zeit an. Zudem wird vieles leichter, wenn ihr das Buch „Sofies Welt“ lest. Sicher leiht es euch euer Vater gerne aus.
»Verdammt! Und wieso weiß er, dass Papa den Schmöker hat?«, schnaufte Iris und war zudem erstaunt, dass sie erst vor wenigen Tagen an das Buch gedacht hatte. Doch der Text floss weiter:
Aber denkt beim Lesen daran, dass das eine Geschichte ist, eine Erfindung. Wir jedoch – ihr und ich – sind Realität. Nicht, dass ihr das vergesst.
Eure Fragen beantwortet das Buch allerdings kaum. Man muss sie auch in einen größeren Zusammenhang stellen. Das will ich tun. Leider geht man ja üblicherweise andersherum vor und löst das Ganze in immer kleinere Teile auf, die man zu verstehen meint, bis nichts mehr bleibt, das zu verstehen lohnt.
So viel sei schon gesagt: Leben gibt es natürlich nicht – und zwar natürlich im wahrsten Sinne des Wortes – ohne Tod. Die eigene Endlichkeit zu erkennen, ist der Ursprung der Angst. Sie wächst mit dem Bewusstsein, Freiheiten zu haben, also auch das Falsche zu wählen.
Würde ich versuchen mit eurer Frage nach dem Bewusstsein zu beginnen, so wäre es, als rissen wir die Blüte vom Stängel: Wir könnten uns an ihr erfreuen, jedoch nicht die Pflanze verstehen, die diese Schönheit hervorbringt. Begännen wir beim Leben, ohne zuvor über das Dasein nachgedacht zu haben, so wäre das, als wollten wir die Pflanze ohne Wurzel verstehen.
Also müssen wir gleichsam von unten nach oben klettern. Das geht nicht ohne Mühe und nur auf mitunter verschlungenen Wegen. Zudem kann man sich in platonische Höhlen verirren und muss aufpassen, nicht in kartesische Spalten zu fallen. Man begegnet Dämonen, scheintoten Katzen und sogar sich selbst. Wollt ihr das wagen?
Nach kurzem Zögern verdrängte Iris alle Irritationen und gab mit der Vorfreude auf das Abenteuerspiel ein: Seilschaft bereit.