Auszug aus Kapitel „Der Zwinkerspiegel“
Hochgestimmt von Lob und unerwarteter Freizeit zogen die Schwestern in ihren Wohnturm. Dort, vor dem Fenster mit dem Blick über die Klippen und das Meer, beratschlagten sie, wie sie den Trick herausbekommen könnten.
»Tauschen wir doch einfach den Spiegel aus, in dem Wendur uns das mysteriöse Bild sehen ließ«, schlug Siri vor.
»Prima Idee«, stimmte Anele begeistert zu: »Es gibt ja Dutzende von diesen Dingern in den unbewohnten Räumen. Nach dem Austausch können wir den Trickspiegel in aller Ruhe untersuchen.«
»Und der Alte wird schön dumm gucken, wenn er uns wieder etwas vorgaukeln will und nichts geschieht«, freute sich Siri.
Sie schlichen die steinerne Wendeltreppe hinab zum Unterrichtsraum. Dort hing friedlich und harmlos der runde, im Durchmesser etwa zwei Ellen große Spiegel in einem massiven Messingrahmen, auf dem die Reflexe der Abendsonne tanzten. Das Glas war etwas matt und nicht ganz eben.
»Nur Mut!«, hallte es durch den karg ausgestatteten Saal. Hatte Siri ihre Schwester oder sich selbst stärken wollen? Entschlossen trat sie vor, betrachtete das etwas unheimliche Ding und aufmerksam sich selbst darin.
Anele tat es ihr nach, ging vor und zurück, winkte, drehte schnell den Kopf. Das Bild im Spiegel folgte gehorsam, seitenverkehrt und blitzschnell, egal wie kurios die Verrenkungen waren. Bald fingen die Mädchen an zu lachen, alberten vor dem Messingding herum und verloren die restliche Beklemmung.
»Aber nun an die Arbeit!«, gab die Ältere das Kommando.
Erst vermaßen sie den Rahmen, dann zog Siri einen Stuhl heran, um die Aufhängung zu inspizieren. Erleichtert stellte sie fest, dass der Spiegel lediglich mit einer gedrehten Kordel an einem Wandhaken hing. Versuchsweise hob sie das gute Stück etwas an. Der Austausch würde völlig unproblematisch sein.
Nun galt es, ein Duplikat zu finden. Sie überquerten bei einsetzender Dämmerung den achteckigen Innenhof des Gebäudes und drangen in das Erdgeschoss des Ostturmes ein.
Wenn man sich nicht vor Spinnen und ihren Geweben ekelte und nicht über gelegentlich weghuschende Mäuse erschrak, dann konnte man es recht gut aushalten. Denn obschon seit Jahren unbewohnt, waren die Räume weder verfallen, noch ihre Einrichtung unbrauchbar. Einige Tage Großputzeinsatz hätten genügt, die alte Philosophenschule von Ureda wieder in Betrieb zu nehmen.
Allerdings gelang es dem Dämmerlicht kaum noch, die verschmutzten Scheiben zu durchdringen, und leider hatten sie keine Lampe mitgenommen. Enttäuscht machten sie sich auf den Rückweg zum einzig noch von ihnen und Lehrmeister Wendur bewohnten Gebäudeteil.
Der Weg zu ihren Zimmern führte sie durch den Unterrichtsraum; eine gute Gelegenheit, dem Spiegel noch einmal die Zunge herauszustrecken. Sie stellten sich in Positur und, »bäh«, sahen ihre Spiegelbilder mit hämisch herausgestreckter Zunge. Dann zwinkerten ihnen diese Bilder mit jeweils beiden Augen zu …