Glaube und Wissen

In das vom Glauben beherrschte hohe Mittelalter drangen auf abenteuerlichen Wegen (die in „Sofies Spiegelwelt“ geschildert werden) die Lehren und Methoden des Aristoteles – den Begründer der Wissenschaften – ein. Ein wesentlich Beteiligter war Thomas von Aquin, der den dadurch eigentlich zwangsläufig scheinenden Konflikt zwischen Glauben und Wissen für lange Zeit entschärfte.

Dazu zwei Auszüge aus dem Roman:

Aus dem Kapitel „Der stumme Ochse, der brüllte“:

Im ersten Schritt untergrub er zusammen mit Albertus durch unzählige Schriften, Diskussionen und mit überzeugenden Argumenten das platonisch geprägte, naturverachtende Weltbild, das der Kirchenvater Augustinus verankert hatte. Im zweiten Schritt machten die beiden Aristoteles zur neuen philosophischen Autorität.

Den dritten ging Thomas, den man später den engelsgleichen Lehrer nannte, alleine: Er errichtete nichts Geringeres als das neue Lehrgebäude der katholischen Kirche. Dazu brach er passende Bausteine aus der Philosophie des Aristoteles und schlug sie mit den Werkzeugen der Scholastik zurecht. Er blieb bei der platonischen Ableitungsmethode, berief sich nunmehr jedoch in vielen Argumentationen auf „den Philosophen“, wie Aristoteles bald nur noch hieß, als Autorität. Die Philosophie blieb die Magd der Religion, die Erfahrungsphilosophie wurde bestenfalls eine Küchenhilfe.«

»Jetzt bitte mal statt Beschreibungen der Personalausstattung der Reihe nach: Was war so schlimm an Aristoteles und wie wandelte er sich vom Christenschreck zum religiösen Supermann?«

»Der alte Grieche, richtig Makedonier, lehrte, die Welt sei nicht geworden und gehe nicht zugrunde.«

»Passt nicht wirklich gut zur Schöpfung und dem Jüngsten Tag.«

»Ferner glaubte er nicht an eine individuelle, unsterbliche, nur Menschen zukommende Seele.«

»Auch voll daneben, denn ohne persönlichen Seele ginge der ganze christliche Glauben zum Teufel.«

 »Der Satan braucht auch die Seele! Doch unser Duo bereinigte diese und alle weiteren Widersprüche auf der Basis von zwei Argumenten: Erstens, dass die bisher vorliegenden Übersetzungen und Interpretationen aus dem Arabischen stammten. Also gab es muslimische Fehlinterpretationen, wenn nicht gar Verfälschungen. Zweitens lebte Aristoteles nun mal vor Christus und konnte die Offenbarungen nicht kennen. Ein christlicher Theologe aber war in der Lage, die Spreu der Verzerrungen und Irrtümer vom Weizen der Wahrheit zu trennen.

So erkannte Albertus, dass die erste Ursache, also die Unbewegte Bewegung, keine Kraft ist, sondern eine Person: Gott. Klar, dass auch die letzte Wirkung, das Ziel, nur Gott sein kann. Somit fallen Anfang und Ende im Schöpfer zusammen, und die heidnische Philosophie ist eingepasst.

Die Einschleusung der Naturwissenschaft ins religiöse System gelang Albertus Magnus mit dem dritten Argument: Die Natur sei eine mit Materie geschriebene Offenbarung Gottes, und Aristoteles zeige, wie man sie lesen kann.«

.

Aus Kapitel „Der Glaube siegt“:

»Doch von den Folgen zurück an die Anfänge: Thomas zog 1248 als Assistent mit dem Meister nach Köln, wo dieser seine Universität gründete. Das kurios anzuschauende Paar – Albert klein und dünn mit überproportionalem Kopf, Thomas mit imposanten Leibesfülle – wirkte dort acht Jahre lang zusammen. Dann erhielt Thomas einen Ruf als Magister nach Paris.

Er lehrte im Sinne des Albertus, die Natur sei kein minderwertiger Schatten der himmlischen Welt, sondern reale Schöpfung, durch deren Verständnis man dem Schöpfer näher komme. Glaube und Wissen seien kein Gegensatz. Die Philosophie des Aristoteles stütze sogar die Religion, denn Zweifel am Glauben seien rational widerlegbar.«

»Die Behauptung konnte aber ein Schuss in den Ofen werden.«

»Seine Argumentation geht ja weiter: Verstand und Logik haben Grenzen. Es gibt Wahrheiten, die nicht durch Denkkraft erreichbar sind, sondern nur durch Glaubenskraft. Diese Wahrheiten sind nicht widervernünftig, sie sind übervernünftig. Somit ist der Umkehrschluss unzulässig, dass etwas, das nicht rational bewiesen werden kann, falsch ist.«

»Wieder das Strickmuster mit den Paragrafen eins und zwei: Aristoteles, Verstand und Logik haben recht, so lange es den Glauben stützt, andernfalls automatisch Unrecht.«

»Jedenfalls schmiedete Thomas mit dieser Argumentation aus den heidnischen Lehren einen Schutzschild des Glaubens. Gehärtet wurde er durch fünf auf Aristoteles verweisende, jedoch unlogisch verwendete Beweise für die Existenz Gottes.«

»Die du uns logischerweise nicht ersparen kannst.«

»Doch ich kann, weil wir den Zirkelschluss schon bei Descartes fanden. Der Kirchenmeister setzt nämlich bei allen Beweisen Gott als höchste Glaubenswahrheit voraus. Dann schmiedet er eine Argumentationskette unter Berufung auf Aristoteles, bis zu dem Glied, an dem dieser erkannte: ab hier ist nichts mehr mittels Verstand zu sagen. Doch diese Grenze überspringt Thomas, indem er die vorausgesetzte Glaubenswahrheit als Lösung einsetzt.

Womöglich wusste er selbst, dass es nur so scheint, als würden durchgehend logische Beweise geführt. Sie sollten ja auch nicht dazu dienen, einen Ungläubigen zu überzeugen, sondern die Glaubensüberzeugung möglichst konfliktfrei mit Aristoteles zu bestätigen. Nur durch derartige Tricks konnte dessen Philosophie Einzug in die christliche Welt halten. Thomas entschärfte die Bombe des logischen Denkens, die das Glaubensgebäude zum Einsturz hätte bringen können.«